Die Zeit und das Warten

Wie unterschiedlich kann man warten?
Immer wieder trifft uns diese Situation im Alltag. Wir müssen warten. Auf den verspäteten Zug, auf die Freundin oder den Kuchen, der im Ofen backt.
Die Hauptrolle in diesem Szenario spielt die Zeit.
Der folgende Text handelt von der Zeit und dem Warten. Entstanden ist er in einem Workshop mit Petra Nagenkögel, den eigentlich Nadja Küchenmeister abhalten wollte, doch sie musste auf einem Flugharfen warten.
Die Uhr tickt. Groß und schwer hängt sie von der Decke. Man kann sie aus jedem Winkel des Raumes wahrnehmen. Man kann den Zeiger beobachten, wie er jede Sekunde zum nächsten Strich und alle fünf Sekunden zur nächsten Zahl springt. Wobei die Zwölf als ein großer, dicker Strich dargestellt wird. Bei jedem Sprung vibriert der Zeiger leicht, bis er zum Stillstand kommt und weiter springt.
Bestimmt gibt es auch ein Geräusch dazu. Ob der Zeiger wohl laut oder leise ist? Ist sein Sprung eher hell, wie ein Klingen oder tief, wie ein Stampfen. Es fällt mir schwer, mir den Ton des Zeigers vorzustellen, denn ich habe schon so viele Uhren gehört. Das ist das Besondere an Uhren. Jede klingt ein wenig anders. Ob es die kleine Uhr am Handgelenk ist, oder die große Standuhr im Wohnzimmer wo früher Großmutter gestrickt hat.
Meist nehmen wir das Geräusch gar nicht mehr wahr. Es ist zu etwas Selbstverständlichem geworden. Eigentlich schon schade. Oft empfinden wir das Ticken als störend, obwohl es uns doch so viel hilft. Wie wäre es wohl, wenn es keine Zeiger, keine Uhren gäbe? Keine Zeit? Wenn, dann wäre mir nicht bewusst, dass ich schon seit drei Stunden 21 Minuten und 17 Sekunden diesem Zeiger zusehe. Würde es sich besser anfühlen? Wäre es leichter zu ertragen, wenn mir nicht klar wäre, dass ich noch zwei Stunden, 38 Minuten und 43 Sekunden warten muss? Gäbe es die Zeit nicht, wäre ich vielleicht dann schon auf meiner Weiterreise?
Der Zeiger schreitet unermüdet voran und lässt meine Fragen einfach stehen. Egal was ich tue oder was ich will, der Zeiger wird einfach weiter im Sekundentakt seine Runde drehen. Auch wenn es mir so scheint, wird er auch nicht mit jeder Sekunde langsamer. Er kriecht kontinuierlich in einem Tempo und lässt die Zeit nicht schneller für mich vergehen. Wie gerne würde ich ihm einen heftigen Tritt verpassen und ihn einige Runden vorschnellen lassen.
Ob mir jemand böse wär, wenn ich die Zeit nach vorne drehen würde? Die anderen fünf Wartenden in diesem Raum sicher nicht. Vielleicht der junge Mann mit der grauen Sweatherjacke und den braunen Schuhen, der sich gemütlich auf einer Bank zum Schlafen ausgebreitet hat. Aber er würde mir sicher auch verzeihen können. Sind wir alle erst im Flieger, kann er ruhig weiterschlafen. Ich freue mich schon darauf, wenn das Flugzeug endlich landet und uns mitnimmt.
Ob mir denn der Pilot böse wär, wenn ich die Zeit nach vorne drehe? Er bekommt sicher auch Probleme, dass sein Flug so verspätet ist. Bestimmt ärgert er sich darüber, kann es aber so einfach nicht ändern. Außerdem wäre er sicher froh, auch endlich nach Hause zu seiner Familie zu kommen.
Doch was, wenn ich die Zeit nach vorne drehe und gerade jemand einen schönen Moment erlebt? Spaß mit den Freunden, die Zeit mit dem Partner, Urlaub, Wochenende, die Kinder, die ohnehin so schnell groß werden. Es gibt viele Momente, wo man die Zeit am liebsten anhalten möchte, um sie noch ein wenig hinauszuzögern.
Das sind die Momente, die man lebt. Und man sollte eigentlich jeden Moment zu einem solchen machen. Denn wenn man in vollen Zügen lebt, dann schlägt das Herz in einem Takt, zu dem man tanzen kann.
Ich stehe von meinem stählernen Sessel auf. Meine Beine fühlen sich steif an, als wären sie schon längst mit dem Sitz verbunden. Doch es ist noch nicht zu spät. Ich strecke mich. Meine Arme greifen Richtung Sternenhimmel, der hinter der künstlich beleuchteten Decke verborgen ist. Ich verharre kurz in dieser Position und senke meine Arme wieder. Ich bleibe noch auf den Zehenspitzen stehen und drehe mich wie eine Ballerina. Das fühlt sich so komisch an, dass ich lachen muss.
Die anderen Leute haben mich gar nicht bemerkt. Sie sind so in ihre Wartestarre verfallen, dass ich ungestört und unbeobachtet zu tanzen beginne.
Und mein Herz schlägt im selben Rhythmus. Schneller, als der Zeiger, der noch immer Strich zu Strich zu Zahl weiterkriecht. Und die Welt dreht sich mit mir.
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