Geschichten-Adventkalender

1. Dezember
„Leni war wirklich ein besonderes Mädchen. Ihr Geist sprühte vor Energie und Freude. Umso trauriger sind wir, dass sie schon so früh von uns gehen musste.“ Die Worte des Pfarrers hallten durch die kalte Kirche und vermischten sich mit dem Schluchzen der Leute. Es waren viele gekommen, um mit Lenis Familie Abschied zu nehmen.
Kristin kauerte neben ihrem Vater auf der Holzbank. Immer wieder verflocht sie ihre Finger oder spielte mit ihrem Schal. Ihre Aufmerksamkeit galt nicht dem Pfarrer, sondern Julian, der zwei Reihen schräg vor ihr saß. Er hatte den Kopf eingezogen und wirkte viel kleiner als sonst. Sein Haar war durcheinander und der Hemdkragen faltig.
Eine Enge breitete sich in Kristins Brust aus, weil sie nicht sofort ihre Arme um ihn schließen und ihn festhalten konnte. In den letzten Tagen war sie für ihn dagewesen. Sie wollte auch jetzt eine Stütze für ihn sein. Nicht helfen zu können, fühlte sich unsagbar grausam an.
2. Dezember
Der Pfarrer wählte schöne und vorsichtige Worte für die Beerdigung. Ihm folgte der schwarze Trauerzug nach draußen auf den Friedhof. Als Kristin die Kirche verließ, hätten ihr die tanzenden Schneeflocken beinahe ein Lächeln entlockt. Es war der erste Schnee in diesem Winter. Leni liebte diese Jahreszeit. Früher war es Julians Aufgabe, mit ihr draußen zu spielen und auf sie aufzupassen. Jetzt konnte er das nicht mehr. Kristins Muskeln verkrampften sich, als Julians Blick ihren traf. Schmerz, Wut und Verzweiflung spiegelten sich in seinen blauen Augen.
Der Trauerzug kam neben dem noch leeren Grab zum Stehen. Stille lag in der Luft und nur die Kälte klirrte. Kristin faltete die Hände, während der kleine Sarg Stück für Stück nach unten gelassen wurde, bis er mit einem dumpfen Geräusch aufkam. Da zerriss ein wimmernder Schrei die Winterluft.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Kristin zu Julian, der neben dem Grab in die Knie gefallen war und die Finger verzweifelt in seine Fäuste grub. Zwei seiner Cousins stolperten zu ihm und zerrten ihn hoch, während Julians Eltern gefühlstaub auf den Sarg ihrer kleinen Tochter starrten. Jetzt hielt Kristin nichts mehr zurück und sie schob sich nach vorne durch die schwarze Menge. Sie musste an Julians Seite sein.
3. Dezember
Es dauerte über eine halbe Stunde, bis Julian endlich wieder zu sprechen begann. Zuvor kamen nur erdrückte und gequälte Laute aus seinem Hals, während er sich an Kristins Schulter festhielt. Wieder und wieder strich sie über sein braunes Haar, das denselben Farbton hatte, wie jenes seiner Schwester einmal.
„Ich hätte sie nicht alleine lassen dürfen.“ Nur mit Mühe konnte Kristin die erstickten Worte erkennen.
„Du konntest nicht ahnen, was geschehen würde“, flüsterte sie sanft. „Niemand hätte es verhindern können.“ Ein erneutes Schluchzen ließ Julians Körper beben. Er war einen Kopf größer als Kristin und viel muskulöser. Trotzdem wirkte er in ihren Armen wie ein Kind. Gebrochen und verletzt.
Kristin drückte ihren besten Freund eng an sich. Ihr Herz schien mit dem von Julian zu leiden. „Ich werde etwas finden, damit ich dir helfen kann. Noch weiß ich nicht, was es sein wird. Aber ich finde einen Weg, um Leni in deinem Herz weiterleben zu lassen.“
Vorsichtig schob Julian sie von sich. Der Trauerzug am Friedhof löste sich bereits auf und es war Zeit, zurück zu kehren. „Wir sehen uns heute Abend“, versicherte sie ihm noch.
4. Dezember
Die Türklingel zu drücken und genau zu wissen, dass etwas fehlte, war ein komisches Gefühl. Kristin stand auf der Veranda und zeichnete mit ihren Stiefel Kreise in den frostigen Boden. Hier draußen war es so ruhig, dass sie erschrocken zusammenzuckte, als Julian ihr die Tür öffnete. Er trug noch immer die schwarze Hose von der Beerdigung, hatte sich aber ein Sweatshirt übergezogen. Seine Frisur und sein Gesicht schimmerten gräulich. Mit der Hand deutete er Kristin reinzukommen.
Zögernd betrat sie den Flur. An den Wänden hingen immer noch alte Kinderfotos und Zeichnungen von Julian und Leni. Kristin streifte ihren Mantel ab und hängte ihn an die Garderobe – neben eine Jacke von Leni. Es war unheimlich, wie sehr sie in diesem Haus immer noch präsent war, obwohl sie nicht mehr da war.
Julian stand schon an der Treppe und Kristin beeilte sich, ihm zu folgen. Oben angekommen, fiel ihr Blick auf die einen Spalt geöffnete Tür zu Lenis Zimmer. Dahinter konnte man das Sofa sehen, auf dem Kuscheltiere platziert waren. Und das große Bücherregal, Lenis ganzer Stolz.
In Julians Augen glitzerten Tränen. Er holte mit dem Fuß aus und stieß die Tür zu Lenis Zimmer ganz auf.
5. Dezember
Fast glaubte Kristin, in einem rosaroten Paradies gelandet zu sein. Lenis Zimmer wirkte so friedlich – bis auf die Leere, die ihr Tod hinterlassen hat. Kristin trat über die Schwelle und ließ ihre Augen über Erinnerungen schweifen. Julian neben ihr hatte seine Muskeln angespannt.
„Ich weiß nicht, ob ich am liebsten alles verbrennen oder sorgsam aufbewahren möchte.“ Verzweifelt fuhr er sich durchs Haar. Sein Blick lag hilfesuchend auf Kristin.
„Leni hat alles hier geliebt…“, fing sie vorsichtig an und wurde unterbrochen.
„Es waren genau ihre lieben Bücher, die ihr das Leben gekostet haben!“ Julians laute Stimme ließ Kristin zusammenzucken. Sein Körper bebte, als er auf das Bücherregal zuging und ein Buch nach dem anderen herauswarf. Er betrachtete jedes einzelne, klappte manche auf, um Seiten heraus zu reißen und katapultierte sie auf den Boden. Wieder und wieder, Reihe um Reihe. Erstarrt beobachtete Kristin, wie Geschichten durch den Raum flogen und fielen.
„Hör auf!“, kreischte sie irgendwann. Ihre Wangen waren feucht von den Tränen, die sich heimlich aus den Augenwinkeln gestohlen hatten. Julian hielt inne. „Leni liebte diese Bücher und du zerstörst sie einfach! Es war niemandes Schuld, dass sie gestorben ist. Die Bücher können auch nichts dafür. Aber sie waren es, die Leni zu Lebzeiten Freude geschenkt haben!“ Nach Luft schnappend blickten sie beide auf den Haufen zerschundener Bücher.
„Ich muss jetzt gehen“, entschuldigte sich Kristin und eilte nach draußen.
6. Dezember
Der Schnee hatte ein dünnes weißes Flies über die Landschaft gesponnen. Kristin zog den Kragen ihres Mantels noch enger, während sie nach Hause stapfte. Julians Reaktion hatte sie erschrocken. Sie konnte sein Gefühlschaos nachvollziehen. Trotzdem schmerzte es, an die zerstörten Bücher zu denken.
Bücher waren für Leni immer wertvoller als Gold und Silber. Stundelang quatschten sie und Kristin über ferne Welten und Zauberwesen.
Es war das Strahlen in ihren Augen, das Kristin nun auf eine Idee brachte. Sie musste Julian überzeugen, Lenis Leben in seinem Herzen festzuhalten, um endlich Frieden zu finden. Wie könnte das besser funktionieren, als auf eine Weise, die Leni immer geliebt hatte.
Durch ein Buch.
Es würde aber nicht einfach werden, Julian dazu zu bringen, wieder ein Buch in die Hand zu nehmen. Geschweige denn, darin zu lesen. Aber es schien für Kristin der einzige Weg zu sein, um ihm über die Trauer zu helfen.
Entschlossen reckte sie den Kopf in den verschneiten Himmel. Sie würde es versuchen. Für Julian.
Und für Leni.
7. Dezember
Noch am selben Abend setzte sich Kristin an ihren Schreibtisch und fertigte eine Liste mit all den Büchern an, von denen Leni ihr einmal erzählt hatte. Es wurde eine lange Liste, mit vielen schönen Namen. Julian hatte sich noch immer nicht bei ihr gemeldet. Vermutlich musste er erst selbst seinen Wutausbruch verdauen.
Kristin strich über ihre Liste. Leni hat sich für so viele Geschichten begeistert. Es musste aber einen Zusammenhang zwischen all diesen Büchern geben. Mit konzentriertem Blick ging Kristin erneut die Liste durch und notierte sich Themengebiete und Botschaften.
Das Wundervolle an Büchern ist, dass sie alle eine unterschiedliche Geschichten hinter ihren Seiten verbergen. Jede bringt andere Emotionen zum Vorschein und erzählt von Themen in einzigartigem Stil und Weise.
Alle dieser Bücher waren besonders und es fiel Kristin schwer, Favoriten aus Lenis Bücherschatz heraus zu kristallisieren. Sie fragte sich, in welchen dieser Bücher Julian wohl früher geschmökert haben mochte. Und welche ihn berührt haben könnten. Kristin überlegte lange. Eine Antwort, auf die Frage nach dem perfekten Buch, schien aber weit entfernt.
8. Dezember
Beim Betreten des Ladens schlug Kristin der unverwechselbare Geruch von Seiten entgegen. Alte und neue Bücher mischten sich hier zu einem großartigen Sinnesschaubild. Der Laden von Andreas sammelte schon seit Jahrzehnten gute und beliebte Lektüre, die den Menschen zum Verleih oder Verkauf stand.
„Guten Tag, Kristin! Schön, dass du mich wieder besuchst.“ Andreas hob den Kopf von seinem dicken Wälzer und musterte sie durch seine Brillengläser. „Was verschlägt dich hierher? Du scheinst heute nicht ohne Grund gekommen zu sein.“ Auch, wenn Andreas fast als Einsiedler gelten konnte und sich lieber mit seinen Büchern, als mit den Leuten beschäftigte, hatte er ein gutes Gespür. Kristin ließ die Tasche von ihrer Schulter gleiten und lehnte sich an den Tresen.
„Du weißt noch nicht, dass sie gestorben ist.“ Überrascht zog Andreas eine Augenbraue hoch. Wer, schien er damit fragen zu wollen. Es kostete Kristin Überwindung, nach einigen Atemzügen mit einem Flüstern zu antworten: „Leni.“
Dieser kleine unschuldige Name ließ den Buchladen einfrieren. Andreas schüttelte sich und blickte ungläubig zu Kristin.
„Ich brauche ein Buch für Julian“, erklärte sie mit nüchternem Tonfall. „Leni hätte nicht gewollt, dass er nach ihrem Tod einen solchen Hass auf Geschichten entwickelt.“
9. Dezember
„Du suchst also das perfekte Buch für jemanden, der es gar nicht lesen will“, fasste Andreas zusammen. Er hatte für Kristin und sich Tee gekocht und den beiden ein gemütliches Plätzchen im Buchladen eingerichtet. Kristin nickte zustimmend.
„Ich kann einfach nicht glauben, dass sie nicht mehr da ist“, murmelte Andreas und strich nachdenklich über den Tassenrand.
„Weißt du, ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag, als Julian seine kleine Schwester das erste Mal in meinen Laden mitgenommen hat. Ihre beiden Eltern waren am Nachmittag nicht zuhause und Julian wollte sich heimlich in den Buchladen schleichen. Leni musste er also mitnehmen. Sie war damals erst vier, schätze ich.“ Auf Andreas Lippen breitete sich ein sanftes Lächeln aus, während die Erinnerung in seinem Kopf Gestalt annahm.
„Leni konnte damals noch nicht lesen und schreiben. Sie kannte nur die Buchstaben ihres Namens und suchte diese in den verschiedenen Buchtitel. Während Julian sich in die Leseecke zurückgezogen hatte, kam sie mit einem Buch zu mir und wollte wissen, was darinstand. Es war die Geschichte von Momo und ich begann, ihr daraus vorzulesen. Ein paar Jahre später hat sich Leni diese Ausgabe gekauft.“
10. Dezember
Die Geschichte von Andreas, wie er Leni aus Momo vorgelesen hat, ließ Kristin mit einem warmen Herzen nach Hause gehen. Das Buch passte zu Leni. Momo war zwar ein armes Mädchen, konnte den Menschen aber gut zuhören und ihnen ihre Zeit schenken.
Nachdem Kristin die Haustür aufgeschlossen hatte, schien die Realität sie wieder einzuholen. Der Anrufbeantworter auf dem Regal blinkte, in der Küche lallte der Radio und ihre Schulsachen vom Vormittag lagen noch immer verstreut im Flur. Warum konnte sie nicht in der magischen Welt der Bücher bleiben?
Kristins Eltern saßen schon am Küchentisch beim Abendessen. Es gab Pasta mit Ferti-Sugo. Ein Zeichen dafür, dass auch sie von Lenis Tod mitgenommen waren. Kristin Vater war nämlich leidenschaftlicher Koch und ihre Mutter Ernährungsberaterin.
„Hattest du einen schönen Nachmittag?“, fragte Kristins Mutter, ehe sie sich der Bedeutung dieser Worte klar wurde. Entschuldigend sah sie zu Kristin.
„Danke, ich muss noch viel lernen und esse vielleicht später etwas.“ Schnell verflüchtigte sie sich aus der Küche mit den ungewohnten Gerüchen hoch in ihr Zimmer.
Morgen würde sie einen Geschichtetest schreiben. Das Buch dazu lag seit fast einer Woche unberührt auf ihrem Schreibtisch. Kristin setzte sich, schaute es eindringlich an und feuerte es dann mit gewaltiger Wucht gegen die Wand. Jetzt waren ihre Tränen nicht mehr aufzuhalten und sie rutschte vom Sessel unter ihren Schreibtisch, wo sie die Hände um die Knie schlang und endlich weinen konnte.
11. Dezember
Die Blicke am nächsten Tag in der Schule waren furchtbar. Julian hatte die Gewährung, für die restliche Woche vom Unterricht befreit worden zu sein. Und so prallten alle Vermutungen, Anteilnahmen, Ratespiele und Anschuldigungen auf Kristin.
Die Kapuze ihres Pullovers tief ins Gesicht gezogen, wartete sie das Klingeln zur Mittagspause nur ungeduldig ab. Als der schrille Klang erhallte, war sie die erste auf dem Flur und anschließend in der Bibliothek. Nach Luft schnappend, schloss sie die Tür hinter sich. Die Bibliothekarin kannte Kristin ziemlich gut und warf ihr einen stummen, mitfühlenden Blick zu.
„Ich bin auf der Suche nach einem Buch“, fing Kristin zu erklären an. „Es sollte ein Buch sein, das Leni etwas bedeutet hat. Julian liest nichts mehr und ich muss ihm seinen Hass wieder nehmen.“
Verwundert zog die Bibliothekarin eine Augenbraue hoch, erwiderte aber nichts. Sie scrollte in ihrer digitalen Datenbank nach unten und konzentrierte sich auf die aufblitzenden Namen. Mit einer Handbewegung wies sie Kristin an, zu ihr zu kommen.
„Es gibt drei Bücher, die sich Leni immer wieder ausgeliehen hat.“ Ein Kribbeln breitete sich auf ihren Armen aus und Kristin fühlte, auf der richtigen Spur zu sein. Aufgeregt las sie die Buchtitel. Der Nussknacker und der Mäusekönig, Peter Pan und Der Kleine Prinz.
„Sag mal Kristin, warum ist dir das denn so wichtig? Wäre es nicht besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen und einen Neuanfang zu wagen?“
„Das kann ich nicht“, erwiderte Kristin. „Und Julian genauso wenig.“
12. Dezember
Als Kristin in der Ecke der Schulkantine saß, erreichte sie eine neue Nachricht auf dem Handy. Ein einziger Blick nur auf den Absender ließ Ungutes vermuten.
„Julian: Ich bin auf der alten Brücke.“
Das Besteck klirrte, als Kristin hochsprang und aus der Schule sprintete. Die erstaunten Blicke der anderen waren ihr egal. Ohne ihre Jacke aus der Garderobe zu holen, lief sie nach draußen und winkte ein Taxi heran.
Die Fahrt dauerte keine fünf Minuten, aber jede einzelne Sekunde war nun wertvoll. Nervös klopfte Kristin mit den Schuhen und sprang aus dem Taxi, ehe es ganz angehalten hatte.
„Julian!“, rief sie gegen die Kälte und den Nebel, der sich hier auf dem Plateau ausbreitete. Sie befand sich auf einem bewaldetet Hügel, an dessen Ende eine Brücke die Verbindung zum Nachbarsberg herstellte.
Julian stand an das Brückengeländer gelehnt. Seine Augen leuchteten durch den Nebeldunst feuerrot und seine Hände zitterten. Kristin rannte mit großen Schritten auf ihn zu und fiel ihm schwungvoll um den Hals.
„Ich hatte solche Angst, du könntest dich hinuntergestürzt haben!“, japste sie in seinen Nacken. Julian schloss die Arme um sie.
„Ich weiß nicht, was ich vorhatte. Aber jetzt bist du ja da."
13. Dezember
Kristin und Julian saßen auf einem Baumstamm, weit genug entfernt von der Brücke und sie erzählte ihm von Lenis Büchern. Julians Haltung war angespannt, aber er unterbrach seine Freundin nicht. Kristin berichtete von den Werken mit den magischen Geschichten, die in fremden fantastischen Welten spielten. Sie erzählte von den Charakteren, denen die Liebe wichtig war und auch die Freude und die Zeit. Jedes ihrer Worte wählte Kristin mit Bedacht und fühlte sich Leni plötzlich näher als zuvor. Als sie endete, schwiegen sie beide für einen Moment.
„Lass uns zurück gehen“, meinte Julian irgendwann kühl. Enttäuscht ließ Kristin die Schultern fallen. Die Bücher, die Leni geliebt hatte, haben ihn nicht erreicht. Julian musterte sie eindringlich.
„Ich will in keinem Buch lesen, dessen Worte meine Schwester auf dem Weg zu ihrem Tod begleitet haben.“ Dann wandte er sich von ihr ab.
14. Dezember
„Ich verstehe ihn einfach nicht. Es scheint unmöglich, ihm helfen zu können.“ Aufgeregt zupfte Kristin an ihrer Bettdecke, während sie mit der anderen Hand das Handy an ihr Ohr presste.
„Du musst wissen, dass sich Julian durch den Tod seiner Schwester in einer Ausnahmesituation befindet. Da kann das Gehirn schon ein paar Mal aussetzen.“ Kristin hatte ihre beste Freundin Marie zu Rat gezogen. Es tat gut, nach langer Zeit endlich wieder mit ihr zu telefonieren und sich die Sorgen von der Seele sprechen zu können.
„Aber was kann ich nun machen?“ Verzweiflung ließ ihre Stimme flackern.
„Die Idee mit dem Buch, das Julian an Lenis Liebe erinnern sollte, finde ich ganz gut. Du hast dir damit aber eine schwierige Aufgabe gestellt.“ Marie hielt kurz inne und dachte nach. „Erinnerst du dich noch an die Vorlesung dieses Autors, bei der wir einmal waren? Wolfang hieß er doch, oder? Vielleicht kann der dir helfen. Schreib ihm einfach!“
„Das werde ich, danke.“ Endlich war wieder Zuversicht und Leben in Kristin gekehrt. Mit neuem Mut legte sie auf und machte sich sofort auf die Suche nach der E-Mail-Adresse von Wolfgang.
15. Dezember
Schon am nächsten Morgen wartete eine Antwort von Wolfgang in Kristins Posteingang. Er wäre sehr erfreut, dass sie an ihn gedacht hatte und möchte sie auf der Suche nach diesem besonderen Buch unterstützen. Kristins Wangen glühten, als sie die Zeilen überflog. Wolfgang schlug vor, sich noch an diesem Nachmittag in einem Café in Salzburg zu treffen.
Der Schnee auf den Straßen der Stadt hatte sich in einen grauen Matsch verwandelt und drückte mit dem Lärm auf Kristins Stimmung, als sie auf dem Weg zum Café war. Der anfängliche Hochflug wandelte sich in Bangen, heute doch nicht erfolgreich zu sein. Vor dem Café hielt sie kurz inne. Der Laden war heute gut besucht und es herrschte ein ständiger Wechsel ein- und ausgehender Kunden.
Wolfgang saß an einem kleinen runden Tisch in der hinteren Ecke. Seine Aufmerksamkeit galt der Zeitung, die über die Tischecken ragte und er bemerkte Kristins Kommen gar nicht. Sie wusste, dass er als Literatur-Redakteur für diese Zeitung arbeitete. Das war einer der Gründe, warum Kristin hoffte, dass er ihr helfen konnte.
Wolfgangs Hand griff suchend zu der Kaffeetasse neben der Zeitung und als er den Blick hob, kreuzte sich seiner mit Kristins. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus und er deutete auf den Platz neben sich.
16. Dezember
Wolfgang alles erzählen zu können, wirkte wie eine Befreiung für Kristin. Er war ein guter Zuhörer und analysierte jedes ihrer Worte in seinem Kopf, ehe er mit Bedacht antwortete.
„Die Geschichten, die Leni am Herzen gelegen sind, haben einige Ähnlichkeiten. Sie verbildlichen Lenis Wunschwelt, in der es keinen Zeitmangel gibt, sondern aufrichtige Liebe und Lebensfreude.“ Wolfgangs klare Worte verblüffen Kristin kurz, ehe sich zuversichtliche Wärme in ihr ausbreitet.
„Kennst du ein Buch, das diese Themen hat? Und welches Julian helfen würde?“, fragte sie nun spezifischer. Wolfgangs Stirn zogen sich nachdenklich zusammen und er rieb mit dem Zeigefinger über seinen leichten Bart.
„Es gibt zu viele Bücher, die solche Teilaspekte beinhalten. Wobei ich mir mit dem Hauptmotiv deiner gesuchten Geschichte noch nicht ganz sicher bin.“ Verwundert beugte sich Kristin nach vorne. „Willst du Julian wirklich ein Buch schenken, das von viele Menschen als schön empfunden wird? Eine solche Geschichte wird genau ihn nicht treffen können.“
17. Dezember
Die Bedeutung von Wolfgangs Worten hallte in Kristins Kopf den ganzen Heimweg über nach. Es schien fast so, als würde kein Buch im Handel existieren, das perfekt zu Julian und seinen Gefühlen passen würde. Wolfgang hatte trotzdem versprochen, die Augen offen zu halten.
Mit gesenktem Blick stapfte Kristin durch den Schneematsch zu der nächsten Bushaltestelle. Die fröhliche Weihnachtsmusik wirkte auf sie spöttisch. Unsicherheit und Angst in ihren Gefühlen schlugen in Wut und Bitterkeit um. Jeden Schritt setzte sie heftiger und fester auf den Asphalt. Sie wollte ihren Ärger niederstampfen. Ein ganz eigener Rhythmus entwickelte sich, in dessen Hintergrund der Städtelärm dumpf hallte.
Kristin bog um eine Kreuzung. Sie ging an Geschäftslokalen und Wohnhäusern vorbei. Die Menschen hinter den Scheiben sah sie nicht. Ebenso nicht die ferne Sirene eines Rettungswagens. Schritt für Schritt stapfte sie zu der Bushaltestelle und hielt ihren Blick gesenkt, sodass sie nicht das Auto bemerkte, dass eilig aus einer Hauseinfahrt bog.
18. Dezember
Lichter, quietschende Bremsen und schlitternde Reifen vermischten sich, als Kristin erschrocken hochblickte. Auch andere Passanten drehten sich um und konnten nur teilnahmslos den Wagen verfolgen, wie er über den Schneematsch rutschte. Kristin hatte die Augen weit aufgerissen, während der Fahrer wild am Lenkrad drehte und das Auto sie zu Boden rammte.
Stille legte sich über den Lärm der Straße. Dann setzten sich die Menschen in Bewegung. Der Fahrer sprang aus seinem Wagen und hechtete auf Kristin zu. Sie lag neben dem Auto im Matsch und griff sich an die pochende Hüfte.
„Ist dir etwas passiert?“, fragte der Fahrer aufgewühlt.
Ein alter Mann raunte: „Die Kleine hat Glück gehabt, dass sie nur gestreift wurde.“
„Sollten wir einen Krankenwagen rufen?“, fragte eine dritte Frau.
Kristin schloss die Augen, um ihr Stimmengewirr auszublenden. Dann setzte sie sich vorsichtig hoch.
„Danke, aber ich brauche keine Sanitäter. Es geht mir gut.“ Der Fahrer atmete erleichtert aus und half Kristin auf die Beine.
„Ich muss jetzt weiter“, erklärte sie und entschuldigte sich bei ihm für ihre Unachtsamkeit. Dieser winkte ab und meinte, es sei auch seine Schuld gewesen. Nachdem er sich versichert hatte, dass Kristin wirklich nichts fehlte, ließ er sie zur Bushaltestelle gehen.
19. Dezember
Der Bus fuhr an Kristins Haltestelle vorbei, doch sie wollte ohnehin erst zwei Straßen weiter aussteigen. Es dämmerte bereits, aber den Weg zu Julians Haus würde sie auch blind finden. Als sie vor die Haustür trat, hörte sie eine lautstarke Unterhaltung dahinter. Es waren die aufgebrachten Stimmen von Julians Eltern. Zögernd drückte sie die Klingel. Die Geräusche verstummten und kurze Zeit später, öffnete Julian die Tür. Er versuchte, den Mund zu einem Lächeln zu formen, doch es entstand nur ein schmaler Strich seiner Lippen. Wortlos folgte Kristin ihm in sein Zimmer.
Sie setzte sich auf sein Bett, während Julian im Raum auf und ab ging. Die Sorgen in seinem Kopf wirbelten wild durcheinander und er suchte nach der passenden Reihenfolge, um sie in Worte fassen zu können.
„Meine Eltern lassen sich scheiden“, sprach er es plötzlich aus. Kristins Augen weiteten sich erschrocken.
Julian setzte sich zu ihr ans Bett, als aus seinen zusammengepressten Lippen ein wimmernder Laut ausbrach. Schnell hob er die Hände vor sein verzerrtes Gesicht. Kristin konnte nicht anders und schlang ihre Arme fest um seinen Körper. Gemeinsam sanken sie auf das Bett zurück und Julian weinte mit den wenigen Tränen, die er noch hatte.
20. Dezember
Es war ein unausgesprochener Beschluss, dass Kristin diese Nacht bei Julian bleiben würde. Sie unterbrach ihn nicht oft, als er seiner Trauer Worte verlieh und erzählte. Die ganze Zeit über schmerzte sie sein zerbrochener Anblick. Julians schöne, sprühende Persönlichkeit hatte ihn verlassen und eine leere Hülle zurückgelassen.
Kristin begann zu zweifeln, dass sie es schaffen könnte, ihm all das wieder zurück zu geben. Mit einem Buch.
Vielleicht brauchte Julian die Hilfe von jemandem anderen. Womöglich brauchte er die professionelle Unterstützung eines Psychologen. Kristin wagte es nicht, diese Vermutung auszusprechen – aus Angst vor seiner Reaktion.
Julian wollte nicht, dass er und Kristin mit seinen Eltern gemeinsam frühstückten. Und so verließ Kristin schon früh am Samstagmorgen das Haus.
Als sie ihr eigenes Zuhause betrat, wurde ihr die andere Atmosphäre schlagartig bewusst. Schon im Vorraum duftete es nach Räucherstäbchen und sie hörte ihre Eltern in der Küche reden. Die beiden standen am Herd und drehten sich gleichzeitig zu Kristin um.
„Wie geht es dir, Liebes?“, fragte Kristins Mutter vorsichtig und drückte ihrem Mann den Schneebesen in die Hand, um Kristin in die Arme zu schließen.
„Ich bin so froh, dass ich euch habe“, flüsterte Kristin leise.
21. Dezember
Kristins Mutter schlug vor, mit ihrer Tochter einen kleinen Ausflug zu machen. Ein Flohmarkt wäre im Ort und Kristin war froh über die Ablenkung.
Der Schnee hinterließ kleine, geschmolzene Punkte auf der Windschutzscheibe. Mit einem unguten Gefühl dachte Kristin an den gestrigen Unfall zurück. Sie hatte ihren Eltern noch nichts davon erzählt und wollte es lieber auch weiterhin verschweigen.
In einem alten Scheunengebäude fand der Flohmarkt statt. Draußen waren Feuerschalen aufgestellt worden, an denen sich die Besucher wärmten.
„Ich bin gespannt, ob Herr Wagner wieder alte Kochtöpfe aufgetrieben hat“, meinte Kristins Mutter, als sie das Auto abstellte. Schweigend folgte ihr Kristin in die Scheune.
Drinnen roch es modrig und faul nach altem Dachboden. Ein beengendes Gefühl breitete sich aus, während Kristin durch die Reihen schlenderte. Ihre Mutter war schon beim dritten Stand hängen geblieben und so begutachtete sie alleine die alten Kunstwerke und Schrottwaren. Ihr Blick glitt leer über Porzellangefäße, Puppen, Videokassetten und mottenzerfressene Pelze.
„Suchst du etwas bestimmtes, Mädchen?“ Die Stimme einer alten Frau ließ sie hochschrecken, Die Dame saß auf einem dreibeinigen Melkschemel zwischen Stücken aus ihrer Vergangenheit und blickte zu Kristin hoch.
22. Dezember
„Eigentlich suche ich nichts hier, danke“, erklärte Kristin der alten Dame. Sie konnte Flohmarktwaren nicht besonders viel abgewinnen. Für sie waren das einfache Überbleibsel, aus denen die Besitzer Gewinn schlagen wollten, obwohl die Mülldeponie oft passender wäre.
„Du scheinst mir aber auf der Suche nach etwas zu sein“, erwiderte die Frau und musterte sie eindringlich durch ihre grünen Augen. Mit einem Ächzen erhob sie sich und schlürfte auf Kristin zu.
„Wenn ich ehrlich bin“, zögerte Kristin kurz „suche ich schon länger nach einem Buch. Aber ich glaube nicht, dass ich es hier finden werde.“
„Das muss ein besonderes Buch sein“, nickte die alte Frau. „Ich habe heute auch ein wertvolles Werk mitgenommen.“ Kristin beobachtete, wie die alte Frau ein abgegriffenes dickes Notizbuch aus einer Kiste hervorzog. Neugierig sah sie sich den Einband genauer an. Er war aus Leder gefertigt, mit einem eingearbeiteten Herz.
„Was ist das?“, flüsterte sie.
23. Dezember
„Hier drinnen habe ich all die lieben Worte gesammelt, die mein Mann und ich uns während unserer gemeinsamen Zeit geschenkt haben.“
„Sie verkaufen die Erinnerungen an ihren Mann?“, fragte Kristin ungläubig. Die alte Dame schüttelt den Kopf.
„Nein, meine Liebe. Die Erinnerungen werde ich auf ewig in meinem Herzen behalten. Dieses Buch ist nur ein Mittel, damit ich sie greifbar machen konnte.“ Sie reichte es Kristin, die vorsichtig über das Leder strich. Die Seiten zu öffnen und in den privaten Gedanken der alten Verkäuferin zu stöbern, wagte sie nicht. Mit einem sanften Lächeln wurde sie von der Frau beobachtet.
„Ich glaube, du solltest auch einen Weg finden, um deine Erinnerungen lebendig zu halten.“
Das spröde Haar fiel der Dame ins graue Gesicht. Kristin konnte sich gut vorstellen, wie sie wohl in jüngeren Jahren ausgesehen haben mochte. Eindringlich betrachtete sie noch einmal das Buch, in dem mehr Liebe als Worte steckte und gab es der Dame zurück.
„Das werde ich. Vielen Dank, dass Sie mir ihre Geschichte gezeigt haben.“
„Unsere Geschichte“, erwiderte die Frau und blickte lächelnd das Herz auf dem Einband.
24. Dezember
Kristin konnte gar nicht schnell genug nach Hause kommen. Sie zerrte ihre verwunderte Mutter regelrecht ins Auto. Endlich in ihrem Zimmer angekommen, schloss sie die Türe ab und setzte sich an den Schreibtisch.
Ihre Hände zitterten vor Aufregung, als sie die Schublade öffnete und einen Stapel Papiere hervorzog. Sie wusste nun, was sie tun konnte, um Julian zu helfen. Es war ihre Aufgabe, Lenis Liebe zu ihm und den Büchern zu wahren. Nichts sollte vergessen werden und nichts sollte verändert werden.
Vorsichtig setzte Kristin die Füllfeder auf das Papier. Wärme erfüllte sie und sie musste lächeln, als der Stift dunkelblaue Linien hinterließ, die eine ganz besondere Geschichte erzählten.
Die Geschichte von Leni und ihrem kurzen Leben. Von Liebe, Freundschaft und der Zeit. Und von Julian, der durch seine Schwester einen Teil von sich selbst verloren hat und erst wiederfinden muss.
Kristins Hand schwebte über das Papier und hinterließ die Zeilen einer wunderschönen Geschichte, welche mit folgenden Worten begann:
„Leni war wirklich ein besonderes Mädchen…“
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