Countdown

Bei der Kurzgeschichte "Countdown" handelt es sich um meine Einreichung zum Salzburger Jugendliteratur-Wettbewerb 2017. Die Bewerbung war erfolgreich und ich profitierte im Folgenden von fünf spannenden Workshops mit gleichgesinnten Jugendlichen, geleitet von namenhaften Autorinnen und Autoren.
Das Thema zur Bewerbung lautete Zukunft.Leben und die Idee zu Countdown kam mir blitzartig während einer Familienfeier.
Es handelt sich um mehrere Geschichten, die dennoch eine Verbindung haben und auf das Ende der Welt herabzählen. Deswegen sind auch die Kapitel von 10 bis 0 fallend angeordnet.
Du begleitest einen Polizeikommissar, die Jugendliche Lara und einen Attentäter bis hin zu den schlimmsten Stunden.
Countdown hat mir einiges abverlangt, bezüglich Perspektivenwissen, Zeitform und auch stilistisch.
Sei gespannt wie unterschiedlich man auf das Ende der Welt zugehen kann.
COUNTDOWN
10 . . .
Das Frühstück steht schon am Tisch, als ich verschlafen und mit zerzaustem Haar in die Küche komme. Neben dem Walnussbrot mit Butter und Himbeermarmelade liegt ein kleiner Zettel unter mein Glas geklemmt.
„Morgen“, mufft Paul von der anderen Seite des Tisches. Er ist mit dem Essen schon fertig, doch anhand der Brösel um seinen Mund kann man eindeutig erkennen, dass er heute wieder eine Semmel mit Nutella gegessen hat. „Wo ist Mama?“, frage ich ohne ihn vorher ebenfalls zu begrüßen. Er zuckt uninteressiert mit den Schultern und deutet auf den gelben Zettel. Das Brot in der einen und das Stück Papier in der anderen Hand, überfliege ich die Zeilen, die Mama geschrieben hat. Sie musste heute schon früher weg – sie verlor kein Wort darüber wohin – und wünscht uns beiden einen schönen Tag.
Paul geht aus der Küche und lässt seinen Teller an Ort und Stelle stehen. Ich versuche mich darüber nicht zu ärgern und nippe an meinem Orangensaft. Meine Nerven brauche ich heute für wichtigere Dinge. In weniger als vier Stunden muss ich eine große Mathearbeit schreiben. Trigonometrie. Ziemlich viele Zahlen und Formen, die einfach nie zusammenpassen.
Den letzten Bissen spüle ich mit dem Saft hinunter und wasche dann sowohl meines als auch Pauls Geschirr ab. Hoffentlich belegt er jetzt nicht noch das Badezimmer. Sonst werde ich ziemlich sicher den Bus verpassen und zu spät kommen.
9 . . .
Tagesblatt: Vulkanausbruch auf Sizilien
Lauter Knall ließ Italien beben
Um 17:48 Uhr am gestrigen Sonntag traten dichte Aschewolken aus Europas größtem Vulkan – dem Ätna auf Sizilien.
Nachdem die Rauchschwaden eine halbe Stunde lang gegen Himmel aufstiegen, kam es anschließend zu kleinen, aber heftigen Explosionen. Auch Vulkangestein wurde mitgeschleudert.
Die nahegelegenen Städte Bronte und Maletto wurden alarmiert. Es kam zur Beratung der beiden Bürgermeister und Vulkanforschern über eine mögliche Evakuierung oder andere Sicherheitsmaßnahmen. Sie beschlossen, mit Entscheidungen noch bis zum nächsten Tag zu warten, um in der Bevölkerung keine unnötige Besorgnis zu schaffen. Ein Entschluss, der fatale Folgen mit sich trug.
In der Nacht auf Montag, um 2:14 Uhr, wurden die Anrainer durch einen lauten Knall geweckt. Der Vulkan spuckte entgegen aller Erwartungen Lavafontänen mehrere hundert Meter in die Höhe. Eine Aschewolke breitete sich kilometerweit aus. Durch die Asche wurden die Dörfer in Dunkelheit gesetzt und auch der Funkkontakt ist gestört.
Bis zum Redaktionsschluss konnten wir keine weiteren Informationen erhalten. Experten der Universität Linz gehen jedoch von folgenden starken Eruptionen des als besonders aktiv geltenden Vulkans aus.
8 . . .
Ich kann ihn schon von weit weg erkennen. Er steht locker an das Stiegengeländer vor der Schule gelehnt. Die Beine hat er gekreuzt, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Sein Blick ist durch die dunkle Sonnenbrille hoch zum Himmel gerichtet, wo sich die Sonne durch die noch dünne Wolkenschicht kämpft. Sein haselnussbraunes Haar ist durch den Wind zerzaust. Er sieht verdammt gut aus.
Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich stehen geblieben bin. Ich zwinge meine Beine vorwärts und achte streng darauf, bloß jetzt nicht über irgendetwas zu stolpern. Meine Augen sind konzentriert zu Boden gerichtet, bis ich schließlich vor ihm stehe. Er nimmt die Sonnenbrille ab und ich blicke direkt in seine glänzenden grünen Augen, die mit seinem Lächeln um die Wette strahlen.
„Hallo, meine Süße!“ Er greift nach meiner Hand. „Hi“, bringe ich hervor und ärgere mich, dass meine Stimme noch so verschlafen und heiser klingt.
„Ich habe dich schrecklich vermisst!“ Lukas ist mit Freunden nach München zu einer Elektronikmesse gefahren. Ich verbrachte das Wochenende ausschließlich vor dem Fernseher.
Er nimmt mich in seine Arme, zieht mich näher an sich heran und legt seine Lippen vorsichtig auf meine. Ein Kribbeln erfüllt meinen Bauch und ich wünsche mir, dass dieser Moment niemals enden würde. Doch da kommt Leo mit seinen Anhängern um die Ecke.
„Igitt! Knutschen könnt ihr aber bitte woanders.“ Gelächter bricht aus. Lukas löst sich sanft von mir und sagt zu ihnen: „Seid doch bitte nicht eifersüchtig, Jungs. Lasst uns einfach in Frieden.“
Er ist immer mehr der ruhige, freundliche Typ. Und trotzdem haben alle Respekt vor ihm. Das liegt vielleicht an seiner Größe von 1,92 Meter und einem Körperbau, der dem eines Profisportlers gleicht.
Leo schimpft noch kurz, zieht aber mit seiner Gang wieder ab. „Lass uns auch gehen. Ich kann nicht verantworten, dass du zu spät zum Unterricht kommst.“ Er schenkt mir ein warmes Lächeln und wir verschwinden im Schulgebäude.
7 . . .
Wagenbauer sitzt an seinem Schreibtisch und spielt mit dem Kugelschreiber, den er letzte Woche als Werbegeschenk bekommen hat. Der Bürosessel quietscht bei jeder Gewichtsverlagerung. Vielleicht hätte er doch ein wenig mehr Sport treiben sollen? Sein Bauch, der sich unter dem Hemd wölbt, bestätigt es.
Die Uhr auf der anderen Seite des Raumes tickt im Schneckentempo. Dieses eintönige Ticken macht ziemlich schläfrig und er spielt mit dem Gedanken, ein paar Minuten Schlaf nachzuholen, als sich plötzlich die Tür öffnet.
„So eine verdammte Schweinerei!“ Die Absätze von Julia Höller klacken in schneller Abfolge auf dem Fliesenboden, bis sie vor Wagenbauers Schreibtisch anhält. Fragend sieht er sie an. „Dieser Mustafa G, den wir vor drei Monaten bei einem Wohnungseinbruch erwischt haben… Der ist beim heutigen Gerichtsverfahren freigesprochen worden! Ich frage mich, wofür machen wir unseren Job und bringen Verbrecher zur Strecke, wenn sie ohnehin nach einem tadelnden Wort der Richterin und einer Geldstrafe von nur 200 € freigesprochen werden?!“
Sie legt ihren Gürtel ab und setzt sich auf die Tischkante. „Die Geschworenen waren sich einig, dass es sich nur um einen Asylanten handelt, der aus Armut und Not zum Einbruch, sozusagen, gezwungen worden ist! Ihm ist jetzt ein fixer Platz im Asylheim Elsbethen versprochen worden, wo er auch schon vorher Unruhe gestiftet hat. Ich hätte ihn lieber in Puch, im Gefängnis!“
Frau Höller ist völlig aufgebracht. Wagenbauer hingegen hat darin mehr Erfahrung. In seinen vielen Dienstjahren ist es schon zu oft vorgekommen, dass Schuldige eine viel zu milde Strafe vom Gericht erhalten haben, als dass er sich noch darüber aufregen kann. Seine Kollegin ist damit als Jungpolizistin noch nicht so vertraut.
Wagenbauer lehnt sich nachdenklich in seinem Sessel zurück und geht den vergangenen Fall noch einmal im Kopf durch. Er muss ihr Recht geben. Es ist wirklich ungerecht. Die Justiz hat schon wieder einen großen Fehler gemacht…
6 . . .
Wasser spritzt an meiner hellen Jeans hoch, als ich in eine Pfütze laufe. „Verdammte Scheiße!“, fluche ich und stampfe auf den Boden, wie ich es immer mache, wenn mich etwas aufregt. Blöderweise lasse ich dabei nur noch mehr Dreckwasser hochspritzen.
Auf der anderen Straßenseite steht ein kleiner Junge mit Zahnspange und Lolli in der Hand. „Grins nicht so blöd!“, rufe ich wütend. Sofort fallen seine Mundwinkel nach unten und er dreht sich eingeschüchtert weg. Mir ist es aber herzlich egal. Immerhin bin ich selbst schon den Tränen nahe. Die Mathearbeit kann ich komplett vergessen! Alle Aufgaben wirkten, als handelten sie von ganz anderem Stoff, als den wir in der Schule gemacht haben. Das Blatt, das ich am Ende der zwei Stunden abgab, ist so gut wie leer gewesen. Mama wird traurig sein, wenn ich schon wieder mit einer schlechten Note nach Hause komme. Und Michael? Bestimmt dreht er den Geldhahn noch weiter zu, obwohl ich mit dem jetzigen Taschengeld nur knapp auskomme. Hoffentlich ruft Mama ihn nicht an, oder Paul, die kleine Petze.
Während ich mir weiter den Kopf zerbreche, versammeln sich immer mehr Leute vor dem Wettlokal an der nächsten Kreuzung. Ich halte den Kopf gesenkt und gehe daran mit großem Abstand vorbei. Plötzlich löst sich eine Gestalt aus der Menge. Es ist Luisa, eine Mitschülerin, die heute in der Schule gefehlt hat, und jetzt auf mich zukommt. „Hast du es auch gehört?“ Ich schüttle den Kopf, ohne zu wissen, was sie überhaupt meint. Es interessiert mich auch nicht. Als ich meinen Weg fortsetzen will, hält sie mich zurück.
„Dieser Vulkan da in Italien, der hat ganze vier Städte mit seiner Lavalawine verschluckt!“ Ein Mann gesellt sich zu uns. „Keine Lava, es war die Asche und das Gestein, das er tonnenweise gespuckt hat.“ Nun kommt noch eine pummelige, ältere Dame heran: „Und zudem wird sich eine gigantische Aschewolke über Süd- und Mitteleuropa ausbreiten. In weniger als 48 Stunden stehen wir in der Finsternis!“ „Als ob sich die Welt gegen uns verschworen hätte, und uns vernichten wollte…“, meint der Mann und die anderen stimmen ihm zu.
Ich kann mir so einen Schwachsinn nicht länger anhören. Ohne auf Luisas Rufe zu reagieren, gehe ich davon.
Die Welt verschwört sich gegen uns… Völliger Quatsch! Wobei: Wir haben unsere Erde immerhin schon genug verletzt. Es wäre längst Zeit, dass sie auch einmal zurückschlägt.
5 . . .
„Hey Rami, was machst du bei meinen Sachen?“ Wütend stürmt Mustafa ins Zimmer und reißt seine alte Sporttasche an sich. „Nur ruhig Kumpel, wir sind doch Freunde!“, lächelt ihn Rami schief an und hebt beschwichtigend die Hände. „Wir sehen uns dann später, ok?“ Schnell schleicht er aus dem Zimmer und schließt die Tür hinter sich, bevor Mustafa noch etwas sagen kann.
Wütend greift dieser nach seiner Tasche. Er kramt im Inneren und öffnet das geheime Fach im Boden. Nichts deutet darauf hin, dass der leichtsinnige Rami es gefunden hätte. Er zückt das Einweghandy, das neben Plänen und Aufzeichnungen dort verstaut ist, und wählt eine ausländische Nummer. „Hallo Marcel, habt ihr alles besorgt?“
Die Stimme am anderen Ende der Leitung wirkt verzerrt, so wie bei jedem Anruf. „Es liegt schon bereit. Du kannst es heute Nacht abholen. Hast du deine Pläne?“ Mustafa bejaht. Es ist kurz still auf beiden Seiten der Leitung. Die Ruhe wirkt bedrückend. Als Marcel wieder spricht, klingt seine Stimme ein wenig besorgt: „Wir brauchen noch mehr Leute.“ Mustafa schluckt. Er weiß bereits, was von ihm verlangt werden wird. „Dein Zimmerkollege ist doch noch recht jung. Und diese zwei anderen naiven Burschen aus dem Quartier brauchen wir auch!“ Es ist keine Frage, die ihm gestellt wird, es ist ein Befehl. „Komm morgen Früh mit ihnen zum Treffpunkt. Wir haben auch für sie das nötige Material beisammen. Und pass bloß auf die Bullen auf!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, legt er auf.
Mustafa setzt sich auf die Bettkante und stützt den Kopf in seine Arme. Wo ist er da nur hineingeraten?
Die Zimmertür öffnet sich. „Hey Kumpel, alles wieder klar?“, fragt Rami mit einem Lachen im Gesicht. Er ist ein naives, gutmütiges Kind, denkt sich Mustafa. Aber er ist auf gar keinen Fall dumm. Mustafa greift in das Fach in seiner Tasche und umschließt mit festen Fingern den Griff eines Messers.
„Rami, wir brauchen deine Unterstützung.“
4 . . .
Gestern Abend haben Lukas und ich noch lange telefoniert. Ich brauchte jemanden, der mich wiederaufbaute und mir gut zuredete. Lukas hat es geschafft, dass es mir heute besser geht.
Er sagte mir hunderte Male, dass eine schlechte Mathenote nicht den Weltuntergang bedeutet und ich für ihn trotzdem die beste Frau der Welt bin. Als Beweis will er mich heute Abend zum Essen in ein Restaurant in der Stadt einladen.
Mama ist nicht zu Hause, also muss ich mich um Paul kümmern. Ich bin total genervt, dass mir mein Bruder schon wieder einen schönen Abend versauen wird, doch Lukas meinte ruhig: „Nimm ihn doch einfach mit. Dann genießen wir das Essen eben zu dritt.“
Je näher wir dem südlichen Teil der Stadt kommen, desto dunkler wird der Himmel. Über uns ziehen schwarze, dichte Wolken auf. Das Außenthermometer fällt um einige Grad ab. Etwas am Himmel ist merkwürdig. Es wirkt nicht, als wären dies normale Gewitterwolken. „Was ist das?“, frage ich und deute aus dem Fenster. „Asche“, antwortet Lukas. „Sie kommt von dem Vulkan, der auf Sizilien ausgebrochen ist. Hast du nichts von der Tragödie gehört?“ „Doch schon“, sage ich und starre weiter nach draußen, wo die Welt in einer dunklen Aschewolke zu versinken droht.
Mir tun die Leute auf der Insel leid. Der Vulkan hat viele Leben und Existenzmöglichkeiten einfach so ausgelöscht. Auf Hilfe und Rettung von außerhalb können die Bewohner auch nicht hoffen. Flugverkehr ist aufgrund der fast zur Gänze eingeschränkten Sicht nicht möglich.
„Wir sind da.“ Lukas lächelt mich an und meine Laune bessert sich sogleich. Wir befinden uns auf dem großen Marktplatz in einem der südlichen Stadtteile. Es ist kurz vor sechs Uhr abends und der Platz ist voll mit Menschen, die von der Arbeit kommen, Essen gehen oder einen Spaziergang machen. Lukas nimmt mich an der Hand.
„Komm schon, Paul!“, sage ich ungeduldig, während er verspielt das Straßenpflaster entlanghüpft. Ich drücke Lukas Hand fester. Es ist so schön, mit ihm hier zu sein. Auf diesem idyllischen Platz, umgeben von Straßenlaternen und einer schwarzen Wolke, die die Sterne verdeckt.
Er tritt auf den Eingang eines schicken Italieners zu und öffnet mir charmant die Türe. Ich drehe mich um, und halte Ausschau nach Paul. Er ist vor einem Straßenkünstler stehengeblieben und betrachtet den Mann, der als Bronzestatue verkleidet ist. Paul versucht ihn mit Grimassen aus seiner Starre zu locken, ohne Erfolg.
Genervt rufe ich ihm zu: „Jetzt komm doch endlich her!“ Er hört mich nicht. Entschuldigend lächele ich Lukas an. Er will zurücklächeln, doch auf einmal ist sein ganzes Gesicht wie versteinert.
3 . . .
Wagenbauer sitzt erschöpft an seinem Schreibtisch. Das Telefon in der Zentrale läutet ununterbrochen. Sie haben nicht genug Leute um alle Anrufe entgegenzunehmen, doch es ist immer das gleiche: LKW-Attentat am nördlichen Ende der Josefbrücke. Dutzende Fußgänger, die niedergemäht wurden.
Allen Kollegen, die gerade erst zum Dienst gekommen sind, hat Wagenbauer den Auftrag gegeben, so schnell wie möglich dorthin zu gelangen und diesen Irren zu stoppen.
Das schwarze Telefon vor ihm schallt schon wieder unüberhörbar. Er will nicht abnehmen. Er hat genug von den blutigen Beschreibungen und den Schreien und Hilferufen aus dem Hintergrund.
Das Telefon zeigt die Nummer einer öffentlichen Telefonzelle aus dem Südosten der Stadt. „Städtische Polizeidienststelle…“ Wagenbauer verstummt noch in der Mitte des Satzes. Aus dem Telefon in seiner Hand kommen keine Laute. Er hört weder die Sirenen noch die aufgewühlten Leute. Ein komisches Gefühl breitet sich in seinem Bauch aus.
„Hallo, Herr Kommissar.“ Die Stimme am anderen Ende ist nur ein leises, aber bestimmtes Flüstern. Wagenbauer kann sie einem jüngeren Mann zuordnen, vermutlich aus dem Osten. Schnell drückt er den blauen Knopf am Apparat, um das Gespräch aufzuzeichnen.
„Mit wem spreche ich?“, fragt er, bemüht den üblichen Diensttonfall beizubehalten. „Das ist unwichtig“, sagt die Stimme. „Was Sie aber interessieren sollte, ist der Grund, warum ich anrufe.“ Wagenbauer holt tief Luft: „Um welchen Grund handelt es sich denn?“ Er ärgert sich darüber, dass seine Stimme so nervös klingt. Es gibt keinen Grund dazu. Andauernd rufen irgendwelche Spaßvögel bei der Polizei an und haben Freude daran, ihnen ihre wertvolle Zeit zu stehlen.
„Viele Menschen werden sterben, Herr Kommissar.“ Seine Kehle wird mit einem Schlag trocken und er muss husten. „Wir schnappen den LKW-Attentäter. Dann wird er niemanden mehr etwas zu leide tun können!“ Ein leises Lachen ist zu hören. „Vielleicht schnappen Sie ihn, Herr Kommissar. Aber, was ist mit den vielen anderen dort draußen… Alle Ihre Leute sind im Norden der Stadt. Es war keine gute Entscheidung von Ihnen, Herr Kommissar. Viele Menschen werden sterben und keiner ist da, um ihnen zu helfen.“
Die Leitung ist tot. Wagenbauer versucht den Rückrufknopf zu drücken, ohne Erfolg. Was hat dieser Anrufer nur gemeint?
Plötzlich kommt ihm ein furchtbarer Gedanke. Was, wenn der Anschlag nur zur Ablenkung diente? Was, wenn noch viel Schlimmeres droht und seine ganzen Leute schon besetzt sind?
Er greift zum Funkgerät, um ein paar Streifenwagen zurückzurufen, als von weit draußen ein gigantischer Knall ertönt.
2 . . .
Es ist so weit. Alle Leute um ihn herum haben ihre Augen auf den mächtigen World-Tower gerichtet, der gerade in Trümmer zerfällt. Stille ist eingekehrt und man hört nur das Ächzen und Rumoren des Turms. Staub weht auf und vermischt sich mit der Asche in der Luft zu einer dichten Wolkendecke.
Mustafa sieht auf seine Uhr. Zehn Sekunden noch. Um ihn herum fängt sich die Welt langsam wieder zu bewegen an. Menschen lösen sich aus ihrer Schockstarre, rufen um Hilfe. Viele sind heute Abend hier.
5 Sekunden noch. Vom Tower ist kaum noch etwas zu sehen. Mustafa fasst nach hinten zu seinem Gürtel und macht sich bereit.
Plötzlich ergreift etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Von den drei Männern am Brunnen ist einer aufgesprungen. Mit großen Schritten und angsterfüllten Augen rennt er zum Seitenausgang. Es ist Rami. Sein Sturmgewehr bleibt auf dem leeren Platz zwischen den zwei anderen zurück. Mustafa sieht ihm nach. Rami hat die richtige Entscheidung getroffen. Er hätte dasselbe tun müssen.
Doch es ist zu spät. Der Countdown ist schon fast abgelaufen.
1 . . .
Wo bis vor wenigen Sekunden noch der World-Tower in die Höhe ragte, sehen wir nur mehr einen Haufen Schutt hinter den Häuserdächern verschwinden. Wie erstarrt blicke ich darauf und weiß nicht, was geschehen ist, als uns ein weiterer Donnerschlag den Boden unter den Füßen wegzieht.
Wir werden von einer gewaltigen Wucht nach hinten geschleudert. Ich lande mit dem Kopf auf den harten Steinstufen. Vor meinen Augen verschwimmt alles und in meinen Ohren dröhnt ein hohes Pfeifen. Ich versuche die Umgebung vor mir auszumachen, doch ich sehe nur wilde Punkte, die sich durcheinander bewegen. Und ich sehe rot. Überall rot.
Irgendwann spüre ich, dass jemand an meiner Schulter rüttelt und mehrfach meinen Namen ruft. Ich drehe mich um und erblicke Lukas‘ verschwommene Silhouette vor meinen Augen. Er versucht mich hochzuziehen, doch ich falle wieder in mich zusammen.
Das Nächste, was Lukas sagt, dringt vollkommen deutlich zu mir durch. „Oh nein, Paul!“ Auf einmal wird die Welt vor meinen Augen wieder klar und ich kann das ganze Ausmaß richtig wahrnehmen. Die Fassade jedes zweiten Gebäudes ist weggesprengt worden. Vor den Häusern liegen Menschen verletzt oder tot am Boden. Etwa acht Männer stehen in der Mitte des Platzes und feuern von dort aus mit Gewehren wahllos in die Menge. Leute, die versuchen zu fliehen, haben keine Chance. Sie haben nicht die Absicht, jemanden lebend davonkommen zu lassen.
Wenige Meter vor uns ist noch das Podest des Straßenkünstlers. Der kleine Metallblock ist merkwürdig aufgebogen und in seinem Inneren kann ich die Überreste eines Sprengkörpers ausmachen. Ich sehe an die Stelle, wo bis vor kurzem noch Paul gestanden und Grimassen geschnitten hat. Doch dort ist niemand mehr. Nur Blut. Viel Blut.
„Paul! PAUL!!“ Ich schreie so laut ich nur kann, auch wenn ich weiß, dass er mich nicht hört. Ich stütze mich ab, sodass ich aufstehen kann. Tränen strömen in meine Augen.
Eine Hand hält mich zurück. Ich will sie abschütteln, doch sie zieht mich eisern nach hinten zum Hauseingang. Verzweifelt schlage ich um mich. Ich muss zu meinem Bruder. Er braucht mich. Ich bin für ihn verantwortlich, ich muss auf ihn aufpassen.
Zwei Arme schlingen sich fest um meinen Oberkörper, sodass ich mich nicht mehr bewegen kann. „Du kannst ihm nicht mehr helfen, Lara.“
In dem Moment sehe ich ihn. Sein Körper liegt mehrere Meter weit entfernt. Eine große Blutlache umgibt ihn. Oberkörper und Arme sind merkwürdig gekrümmt und dort wo seine Beine sein sollten, ist nur noch mehr Blut.
„Paul“, flüstere ich ein letztes Mal und spüre, wie mein Herz langsam und qualvoll zerbröckelt.
Als Lukas mich ins Gebäude zerrt, wehre ich mich nicht mehr. Ich starre nur weiter auf den roten Fleck, der mein Bruder ist.
. . . 0
Die Welt steht in Flammen.
Auf dem Marktplatz, wo zuvor noch so viele Menschen gemeinsam ihren Feierabend genossen haben, befinden sich noch acht Männer, die ihr Werk begutachten. In den umliegenden Straßen stehen in Brand gesteckte Autos. U-Bahn-Stationen sind zerbombt und Brücken gesprengt worden. Die Menschen, die wie Ameisen ziellos umherrennen und nach Sicherheit suchen, werden von Hochhäusern aus niedergeschossen. Die Straßen sind voller Blut.
Es handelt sich nicht nur um einen Anschlag auf diese Stadt. Auf der ganzen Welt werden zu dieser Sekunde Häuser in die Luft gejagt und unschuldige Menschen ermordet.
Wagenbauer steht in seinem Büro am Fenster und sieht auf die roten Straßen herab. Das ist das Werk von Hunderten. Nein. Tausenden Attentätern. Am nördlichen Ende der Stadt sieht man die Blaulichter leuchten, die der Reihe nach erlöschen. Er hat falsch entschieden. Durch ihn sind die Menschen seiner Stadt nicht beschützt worden. Gott vergebe ihm.
Er sieht ein letztes Mal aus dem Fenster und die Bombe auf der Straße sprengt das Polizeiquartier in die Luft.
Lisa (Montag, 30 Juli 2018 19:55)
Hallo Nici,
bin gerade total zufällig auf diese Seite gestoßen und bin echt begeistert! Find ich voll mutig von dir, Texte öffentlich zu machen, und deine Tipps und Ratschläge sind wirklich gut! Ich werd auf jeden Fall öfter mal herschauen:))
Liebe Grüße, Lisa (die bereits ganz genau weiß, welche Erzählperspektive in welchem Absatz von "Countdown" verwendet wird)