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Sturmschiff

Kurzgeschichte: Sturmschiff

Der Wind fuhr unaufhaltsam in die Segel und blähte sie auf, als seien sie federleichte Bettlaken. Doch eigentlich wogen sie mehr als ein Dutzend und dienten einem ganz anderen Zweck, als gemütliche Bettlaken. Jene gab es hier auch keine. Seit Tagen schlief Jakob in einer quietschenden Hängematte unter der Stiege. Eine Decke hatte er schon lange nicht mehr gesehen, geschweige denn gefühlt. Trotzdem fühlte sich Jakob Tag für Tag ausgeruht und hellwach. Vor allem jetzt war seine ganze Konzentration gefordert.

Mit beiden Händen hielt er das Tau umfasst. Er spürte, wie das Seil an seiner Handfläche nach oben rutschte und schloss die Finger noch enger. Der Wind blies ihm nasse Haarsträhnen vor die Augen, die er nicht wegstreichen konnte und so durch einen Vorhang blickte. Doch er musste ohnehin nichts sehen. Nur halten, nicht loslassen. So lautete der Befehl des Steuermanns. Die Muskeln in seinen Händen waren um das Tau vereist. Von oben hörte er immer wieder Stimmfetzen herunterjagen. Willkürlich wehte der Wind Worte zu Jakob herab. Angestrengt versuchte er, dem Gespräch des Steuermanns mit dem Kapitän zu folgen. Die beiden schrien sich an. Ob wegen der lauten Sturmböen oder aus Wut, wusste Jakob nicht. Er konnte ihre Gestalten kaum ausmachen. Durch die dichten Wolken am Himmel wirkte alles Grau. Nur nicht das Meer, welches wie ein schwarzes Loch um das Schiff herum klaffte.

Nur halten, nicht loslassen, jagte es wieder in Jakobs Kopf. In der gleichen Position verharrend wandte er seinen Kopf ein Stück nach links. Matthias stand breitbeinig am Deck, in den Händen ein weiteres Tau fest umklammert. Seine Zähne waren zusammengebissen und sein ganzer Körper wirkte angespannt, fast zu verkrampft. Ein heftiger Windstoß brachte Jakob beinahe aus dem Gleichgewicht. Sein rechter Fuß rutschte am hölzernen Deck nach vor. Blitzschnell korrigierte er seinen Schwerpunkt. Das Seil wäre beinahe aus seinen Händen gerutscht.

Zu viert waren sie, die hier oben die Segel unter Kontrolle zu halten versuchten. Jakob war von ihnen der Zweitälteste. Den Spuren seines Vaters wollte er folgen, als er sich für den Job auf der San Katharina bewarb. Seine Erwartungen wurden aber ertränkt, als er täglich mit Eimer und Besen die alten Holzdielen schrubben durfte. Lukas, der Größte und Älteste, dessen Vater mit dem Steuermann befreundet war, durfte an den Instandhaltungs-Arbeiten teilnehmen. Wie oft hatte Jakob sein hämisches Grinsen zu ignorieren versucht. Jetzt stand Lukas auf der gegenüberliegenden Seite und klammerte sich an einen Tau, als hinge sein Leben davon ab. Vielleicht stimmte das sogar. Seine Stirn glänzte nass vom Schweiß und der Gischt. Aus seinen Augen blitzten Tränen.

Wir sitzen also doch alle im gleichen Boot, stellte Jakob genüsslich fest. Das Donnern einer zuschlagenden Tür ließ ihn herumfahren. Heinrich stürmte aufs Deck, aus seinen Gummistiefeln schwappte mit jedem Schritt Wasser. Eilig stapfte er zu Christoph, den Jakob hinter dem Mast nicht erkennen konnte. Er beobachtete die Segel, die der Wind aufplusterte. Eines wurde stark zur Seite gezogen und man sah Heinrich, wie er versuchte den Tau von Christoph am vorderen Schiffsende festzubinden. Seine Armmuskeln blitzten stählern.

Das Segel bäumte sich gegen Heinrichs Willen, doch er war stark wie ein Bär und Jakob war sich sicher, dass Heinrich das ganze Meer bändigen könnte. Fast hatte er das Segel verankert, da wurde das Schiff von einer Welle gehoben. Jakob klammerte sich an seinen Tau, die Füße verwurzelte er gedanklich mit dem Boden. Einen kurzen Moment lang schien das ganze Schiff zu fliegen.

Nur halten, nicht loslassen. Mit dem Aufprall ging Jakob in die Knie. Das Schiff hielt inne, ehe es seinen unberechenbaren Weg fortsetzte. Gebannt blickte Jakob auf seine zitternden Hände. Das Tau hatte sie aufgeschürft. Er spürte kein Brennen, nur den Stolz pulsieren, dass er das Seil gehalten hat. Grinsend wandte er seinen Kopf. Doch was er eigentlich zu sehen erwartete, war etwas anderes gewesen.

Matthias lag am Boden zusammengerollt. Sein Rücken war an die schmale Wand gepresst, die ihn vor dem Abgrund zum Meer trennte. Seine Hände waren ebenfalls aufgeschürft, doch sie hielten kein Seil mehr fest.

Ganz langsam glitt Jakobs Blick nach oben. Er sah das Segel, das vom Wind aufgebäumt wurde, dann den Tau, der wie eine leblose Schlange nach oben gerissen wurde, bis sich schließlich das ganze Segel aus der Verankerung löste. Ein Grölen hallte übers Deck und fuhr in seine geschundenen Fingerspitzen. Heinrich zerrte mit aller Kraft am zweiten Tau des Segels. Seine Gesichtszüge wirkten wie der Sturm selbst. Und da begriff Jakob, dass es wirklich Leben waren, die an diesen Seilen hingen. Als seien sie die Fäden von Marionetten und dürften nicht durchtrennt werden.

Das zur Hälfte gelöste Segel peitschte wie ein nasser Lappen um den Mast. Gespenstig schien es kälter zu werden. Jakob versuchte seine Hände noch fester zu schließen, als sie es ohnehin schon waren. Die Kraft wich allmählich aus seinen Fingern. Allmählich rutschte das Seil zentimeterweise nach vorne. Er kniff die Augen zusammen. Jakob wollte das Tau halten und mit ihm die Leben aller auf diesem Schiff. Er würde es schaffen.

Ein wimmernder Laut, voller Erschöpfung und Klage, wurde vom Wind zu ihm getragen. Lukas war in die Knie gegangen. Sein Blick ruhte auf Jakob. Etwas spiegelte sich in seinen Augen. Jakob sah zu dessen Strick, der immer weiter durch seine Hände rutschte. Entsetzen fuhr durch seinen ganzen Körper. Lukas Blick war immer noch auf ihn gerichtet. Da wusste Jakob, es tat ihm Leid. Der Älteste von ihnen ließ erschöpft seine Stärke und mit ihr auch den Tau fallen. Als das Segel nach oben gerissen wurde, spürte er den Ruck durch seinen Körper fahren. Der Wind hatte endgültig die Kontrolle über Meer und Schiff übernommen.

Grau peitschte der Regen herab und belegte alles mit einem Schatten. Jakobs Hände, die eigentlich rot sein und brennen müssten, spürte er schon längst nicht mehr. Zwei Segel hatten sich gelöst und es war unmöglich, die anderen in diesem Sturm zu halten. Sie sollten versuchen, ihre letzte Möglichkeit zur Flucht zu nutzen. Im gleichen Moment wie Heinrich, ließen seine Hände von dem Tau ab und sie stürmten zu den Rettungsboten. Matthias kam angekrochen, ebenso die Küchenhilfen stiegen aus dem Schiffinneren hervor. Heinrich krallte seine Finger in eines der Boote und zerrte es an den Rand. Jakob schnappte sich das zweite Boot. Er blickte zum Steuermann, der verbissen und hoffnungslos zu retten versuchte, was schon längst verloren war. Der Kapitän war nirgends zu sehen. Heinrich hiefte mit dem Seilzug das Boot über den Rand. Mit schnellen Handbewegungen deutete er der Crew einzusteigen.

Jakob suchte mit den Augen das Deck ab. Fast alle hatten sich schon hier bei den Booten eingefunden. In der grauen Dunkelheit konnte er kaum etwas erkennen, doch er suchte nach etwas bestimmten. Lukas war nicht hier. Unter dem taumelnden Seilen war Leere. Jakob wollte die Stelle genauer betrachten, als er von Heinrich mit dem Boot davon gezerrte wurde. Ohne nachzudenken hakte er es mit flinken Bewegungen in den Seilzug.

Ein dumpfer Schrei, gefolgt von einem Platschen drang an sein Ohr. Jakob erstarrte. Er sah zurück an die Stelle, wo Lukas noch vor Minuten den Tau gehalten hatte. Gott vergebe ihm, dachte er und setzte sich zu den anderen ins Rettungsboot, welches er mit Heinrich Stück für Stück zu den tosenden Wellen herab ließ. Als sie die Meeresoberfläche erreichten, krachte ein Mast mit voller Wucht aufs Deck und begrub das Steuerrad unter sich. Sie waren keinen Moment zu früh geflüchtet. Jetzt konnten sie nur mehr hoffen. Heinrich reichte ihm ein Ruder und sie versuchten, das Boot in die Ferne zu lenken.

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